Florian Harms hatte seine Karriere beim Portal SPIEGEL Online (Spiegel.de) schließlich dann nach einem Jahr als Chefredakteur beendet. Für den renommierteren Print-Spiegel, der damals noch in getrennter Redaktion spiegelte, durfte der Onliner nicht schreiben. Nach seinem SPIEGEL-Ende wurde dort schließlich zunehmend auf Bezahlcontent umgestellt – zulasten von Reichweite und Deutungsmacht. (Und das ist gut so …)
Statt in einer etablierten Redaktion fing Harms im Werbekonzern Ströer an, der das Portal T-Online.de betreibt. Das rufen T-Online-Kunden normalerweise auf, wenn sie ihre E-Mails checken wollen, fallen aber häufig auf die Click Baits herein. Die sind kostenlos, aber werbefinanziert – die Leser sind also das Produkt. Das meiste dort scheint Boulevard zu sein, beim Großteil dürfte es sich um Agenturmaterial handeln.
Eigentlich wäre eine KI für den Job mehr als ausreichend.
Dennoch werkelt da anscheinend wirklich eine Redaktion, sogar einen Leiter der Recherche soll es geben, wobei unklar ist, ob der wirklich jemanden anleitet oder Ahnung von seinem Job hat. Soweit ich es beurteilen kann, ist der gute Mann vor allem damit beschäftigt, Personen, die regierungsnahen Narrativen nicht ausreichend huldigen, als gaga zu framen. Damit kommt man im journalistischen Berlin vermutlich weit.
In diesem Video behauptet Harms stolz, er habe 150 Redakterinnen und Redakteure.
Harms tut dort kund, es müsse in Deutschland ein seriöses Medienangebot geben, das seine Inhalte nicht hinter eine Paywall verstecke, man bräuchte Zugang zu „gutem Journalismus“. Man trenne zwischen Meinungsbeiträgen und anderen. Sie seien Journalisten und nicht Aktivisten. Eine aufgeklärte Bürgergesellschaft sei gerade in Zeiten von Fake News umso wichiger.
Toll! Endlich mal ein Medium, das sich als unabhängig und überparteilich deklariert. Gab es vorher ja noch nie! „Stroeer.de mit zwei e“ erklärt Harms. (Sind das nicht 3 e?) Der Spruch erinnert mich an „Hermann Willié mit Akzent auf dem e“ …
Ob man bei T-Online wirklich Ahnung vom Recherche-Handwerk hat und einen qualifizierten Beitrag leistet, um die Welt vor Fake News zu bewahren, darf man höflich bezweifeln. Etwa die Arbeitsprobe „Ex-Agent enthüllt neue Details über Kennedy-Attentat“ („aktualisiert am 10.9.2023“) eignet sich für jede Journalistenschule als Negativbeispiel auf allen denkbaren Ebenen:
So tischte T-Online.de absolut unkritisch das Märchen des einstigen Personenschützers Paul Landis auf, der knapp 60 Jahre nach den Schüssen auf John F. Kennedy nun behauptete, ein Projektil auf der quasi Hutablage der Limousine aufgelesen und später im Krankenhaus auf Kennedys Trage gelegt zu haben – das als „Beweisstück 399“, berühmtesten Asservat der Kriminalgeschichte.
Allen Ernstes kaufte man bei T-Online.de dem Personenschützer das Seemannsgarn ab, dieser hätte knapp 60 Jahre die Diskussion um die „magische Kugel“ nicht mitbekommen, die spätestens seit dem Film „JFK“ (1991) fester Bestandteil der US-Populärkultur ist. 399 wurde ballistischen Untersuchungen zufolge aus einem „Manlicher Carcano“ abgefeuert und soll die Zuordnung des Attentats zur angeblich gefundenen Waffe des Fabrikats Manlicher Carcano beweisen, die angeblich Oswald gehört haben soll.
Kein ernst zu nehmender Journalist reicht eine solche Räuberpistolenkugel wie die von Landis ungeprüft durch. Es ist schon unklar, wie das Projektil entgegen der Schwerkraft an der angegebenen Stelle verblieben sein soll.
Dass ausgerechnet Landis der vehemente Streit um die hanebüchene Single-Bullet-Theorie entgangen sein sollte, weil er traumatisiert gewesen, ist nicht nur völlig unglaubhaft, sondern sogar positiv widerlegt. Die Frage, warum es von Landis keinen Bericht gegenüber der Warren Kommission gab, beantwortet Landis selbst: Weil dessen Zeugenwahrnehmung unerwünscht war. Der angeblich traumatisierte Landis selbst hatte in Wirklichkeit im Juni 1964 sogar an die Warren Kommission einen ignorierten Brief zum Thema geschrieben, der tödliche Schuss sei seines (professionellen) Eindrucks nach von vorne gekommen.
Seltsamerweise aber hatte er Beweisstück 399 in seinem Brief von 1964 nicht erwähnt. Der angeblich traumatisierte Landis hatte auch öffentlich zum Thema gesprochen, nämlich bereits in den 1990ern, angeblich seine Meinung dann aber 2010 geändert, in 2016 dann bezweifelte er wieder die Single Bullet-Theorie. Aber erst mit 88 Jahren will ihm eingefallen sein, die Geschichte von Fund und Platzierung zu erzählen.
Landis bietet auch keine glaubhafte Geschichte an, wie das Geschoss nahezu unversehrt auf den Bereich oberhalb der Rücksitze hätte gelangen sollen. Geschosse schlagen in ihre Ziele ein und deformieren sich beim Aufprall mindestens an der Spitze (erst recht, wenn diese Knochen zerschlagen haben sollen). Ein nahezu unversehrtes abgefeuertes Projektil wie Beweisstück 399 wird im richtigen Leben praktisch nur dann beobachtet, wenn es von der Polizei zum Zweck eines ballistischen Vergleichs in einen Wassertank geschossen wird. Blut wurde an Beweisstück 399 nicht sichergestellt …
Qualifizierte Rechercheure hätten sich auch den Ghostwriter James Robenalt und dessen Buch etwas genauer angesehen. Darin behaupten Robenalt/Landis, von den zahlreichen Verschwörungstheorien gäbe es keine, der zufolge Beweisstück 399 auf Kennedys Bahre platziert worden sei. Abgesehen davon, dass genau eine solche Szene in „JFK“ (1991) nachgestellt wurde, hatte der Biograph von Landis 1997 verstorbenem Kollegen Sam Kinney dieselbe Geschichte bereits 2013 aufgetischt. Kinney hatte das Folgefahrzeug gefahren, auf dessen Trittsteige Landis stand. Kinney soll einem Autor zufolge ebenfalls von Schüssen von vorne und vom Fund von 399 im Wagen berichtet haben, den auch Kinney auf der Bahre platziert habe.
Nun haben wir also zwei Secret Service-Agenten, welche 399 gefunden und platziert haben sollen.
In beiden Fällen dürfte Anlass für diese Story gewesen sein, dass sich neue Bücher über historische Themen nur dann verkaufen lassen, wenn sie ein neues Alleinstellungsmerkmal bieten. Die Geschichte ist also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein PR-Gag, mit dem der 88-jährige Landis und sein umtriebiger Ghostwriter noch mal schnell Kasse machen wollen, und das auch noch abgekupfert.
Anscheinend ist Harms & Co. auch unbekannt, dass Landis kaum als weißer Ritter taugt. So lag der Secret Service wie auch etliche andere US-Nachrichtendienste mit den Kennedys im Clinch, etwa wegen dem Streit um den von Kennedy protektionierten dunkelhäutigen Secret Service-Mann Abraham Bolden. T-Online ist offenbar auch entgangen, dass Landis einer von neun Secret Service-Leuten war, die sich am Vorabend in Fort Worth bis 5 Uhr morgens in einem Strip-Local, das einem Freund von Oswald-Mörder Jack Ruby gehörte, so stark betrunken hatten, dass sie dort Dienstgegenstände verloren. Der Secret Service spielte im Vorfeld sowie bei der „Beweissicherung“ eine zweifelhafte Rolle, ohne dass jemand für das Maximalversagen bestraft wurde.
Nun könnte man das Versagen von Harms „Spitzenteam“ ja noch damit entschuldigen, dass die New York Times auch auf diese „Sensation“ reinfiel – oder der Klicks wegen reingefallen sein wollte.
T-Online.de schreibt aber allen Ernstes: „Doch die Schlussfolgerung der damals ermittelnden Warren-Kommission könnte nun ins Wanken geraten.“
Bitte nochmal lesen.
Das ist, höflich ausgedrückt, inkompetent. Umfragen zufolge glaubt bereits seit 60 Jahrem über die Hälfte der US-Bevölkerung diesen Schmarrn nicht. Da gibt es nichts mehr zu „wanken“.
Noch am Tag des Attentats hatte der angeblich ebenfalls von der „magischen Kugel“ getroffene Gouverneur John Conally von weiteren Schüssen gesprochen, allein Conallys zahlreiche Wunden dürfen von mehreren Geschossen stammen. In Conallys Hand, die dem Zapruder-Film zufolge vor Kennedys Kopf getroffen wurde, verblieben unstreitig zeitlebens Metallsplitter, die offensichtlich am nahezu intakten Geschoss 399 nicht fehlen.
Sogar vier der sechs Mitglieder der Warren Kommission hatten damals öffentlich erhebliche Zweifel an der Single Bullet-Theorie geäußert, einer hatte sogar vergeblich eine Dissenting Oppinion gefordert und Material an die Presse geleakt. Ein fünfter, Gerald Ford, hatte in seiner Eigenschaft als späterer US-Präsident seinem Amtskollegen Valéry Giscard d’Estaing in den 1970er Jahren vertraulich eingeräumt, dass die Warren Kommission von mindestens einem weiteren Schützen ausging, man habe aber nicht gewusst (oder wollte es nicht), von wem.
Der sechste, der mit den Kennedys verfeindete und mit dem für den Secret Service zuständigen Minister (ein Multimillionär) eng befreundete Ex-CIA-Chef Allen Dulles darf als befangen gelten, denn in jeder seriösen Untersuchung wäre Dulles nicht der Ermittler, sondern der Hauptverdächtige gewesen. Dulles hatte über zwei Jahrzehnte fremde Staatschefs liquidieren lassen, mit den Nazis vor und während des Zweiten Weltkriegs seltsame Geschäfte gemacht und Roosevelt, Truman, Eisenhower und Kennedy hintergangen.
Seit den Berichten des House Select Committee on Assassinations von 1979 und des JFK Records Review Board von 1998 hält selbst in den USA niemand ernst zu nehmendes noch an der Alleintäter-Theorie fest. Auch die Ärzte vom Parkland Hospital hatten bereits vor Jahrzehnten mit diesem Quatsch aufgeräumt.
Diesen Unfug verbreiten heute nur noch Leute, deren Gehalt davon abhängt, dass sie gewisse Dinge nicht verstehen.
Wie wird man eigentlich Journalist, wenn man selbst diesen historischen Klassiker nicht kennt?
Und was machen diese 150 Menschen in Harms Redaktion und sein Leiter der Recherche so hauptberuflich, wenn sie einen 60 Jahre alten cold case so naiv berichten, als wäre er gerade geschehen?
Und wie kann man sich vom Secret Service-Opa mit einer Gute-Nacht-Geschichte so derart verladen lassen?