Ich trauere um meinen Freund Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow (1939-2017).
2009 hatte ich die unverhoffte Ehre, mit Stanislaw persönliche Freundschaft zu schließen. Stanislaw war im September 1983 diensthabender Offizier der Satellitenkontrollstation in Serpukov gewesen. Die Anlage hatte den Zweck, den Beginn eines interkontinentalen Nuklearkriegs rechtzeitig zu erkennen, um einen Gegenschlag zu ermöglichen – die perverse Logik des atomaren Gleichgewichts.
Damals hatte der ultrakonservativer Schauspieler Ronald Reagan das Rad der Geschichte zurückgedreht, die Abrüstungsgespräche für „tot“ erklärt und eine Koexistenz mit dem „Reich des Bösen“ ausgeschlossen. Nach dem Abschuss von KAL 007 und vor der fatalen Übung Able Archer 83 waren KGB und Politbüro davon überzeugt, dass der geisteskranke Hardliner Reagan früher oder später einen atomaren Überraschungsschlag befehlen würde.
Ausgerechnet in dieser hochangespannten Phase des Kalten Kriegs ereignete sich bei der neuen Generation der Spionagesatelliten eine Fehlfunktion, die dazu führte, dass der Computer fünf Starts von Interkontinentalraketen meldete. Hätte Stanislaw nicht die Ruhe bewahrt und stattdessen den Fehlalarm weitergegeben, hätte wenig gefehlt, um einen irrtümlichen Zweitschlag auszulösen. Die Russen waren nicht bereit, eine Vernichtung ohne Gegenschlag hinzunehmen, der „Sieger“ hätte nur eine halbe Stunde länger gelebt.
Aufgrund meiner Beiträge über Able Archer kam 2009 das politische Theaterprojekt mit Rimini Protokoll am Landestheater Düsseldorf und dem Berliner Hebbel-Theater zustande, in dem Stanislaw und ich uns autobiographisch selbst spielten. Der Ingenieur hatte großen Spaß an meinen Zaubertricks und assistierte mir sogar dabei, die isländische Nato-Soldatin Herdis schweben zu lassen. Hier gibt es eine Video-Aufzeichnung. Stichwort war ironischerweise „Start“ – die Bezeichnung für einen Start der ballistischen Raketen.
Aus meinen Gesprächen mit Stanislaw habe ich 2009 bei Telepolis einen Beitrag genacht (Stanislaw Petrow und das Geheimnis des roten Knopfs). Er legte immer Wert darauf, kein Held zu sein. Jeder seiner Kollegen hätte in seiner Situation genauso gehandelt.
Ob letzteres stimmt, kann ich schlecht beurteilen. Immerhin hatte Stanislaw das Handbuch für den Computer geschrieben, während umgekehrt auch Stanislaw damals nicht erkennen oder einschätzen konnte, welche Ursachen den Fehlalarm auslösten. Monate später erkannte man, dass es Reflexionen des Sonnenlichts auf Wolken oder Luftschichten gewesen sein müssen, die sich zufällig genau über den Raketensilos befanden.
Wenn man jemals eine militärische Leistung bewundern darf, dann die, einen Atomkrieg aus Versehen ebzuwenden. Für mich jedenfalls ist Stanislaw ein Held. Es war eine Ehre, ihn gekannt zu haben.