„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“
ist ein geflügeltes Wort, das man heute verlogenen Politikern (Redundanz?) entgegen schleudert.
Würde Walter Ulbricht heute noch leben, so wäre er längst zum Landgericht Hamburg gelaufen, denn mit dem Zitat wird Ulbricht mindestens andeutungshalber vorgeworfen, die Öffentlichkeit über seine Absichten belogen zu haben. Einen Prozessgegner würde die Beweislast für das Zutreffen einer Lüge Ulbrichts treffen.
Die Beweisaussichten für einen Prozessgegner wären jedoch schwach, denn es spricht vieles dafür, dass Ulbricht damals tatsächlich gemeint hatte, was er sagte.
Die Äußerung fiel am 15.06.1961 im Rahmen einer Pressekonferenz in Wien zum Kennedy-Chruschtschow-Gipfel, als die FR-Journalistin Annamarie Doherr fragte:
„Bedeutet die Bildung der freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“
Ulbricht:
„Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“
Ostdeutsche Historiker und Zeitzeugen bestreiten, dass Ulbricht damals etwas anderes im Sinn hatte, wenngleich er auch von Moskau Maßnahmen forderte, um die damaligen Wirtschaftsflüchtlinge aufzuhalten. Das erstmalige Verwenden des Wortes „Mauer“, noch dazu ohne Not, wäre für den Taktierer auch mehr als ungeschickt gewesen, hätte er bereits derartiges konkret im Sinn gehabt.
Tatsächlich besprach Ulbricht dann im Juli in einem inzwischen freigegebenen Geheimpapier mit Chruschtschow, dass man in Berlin sowie an den anderen Grenzen etliche Stellen mit Stacheldraht sichern wolle. Eine Mauer war tatsächlich nicht im Gespräch.
Am 01.08.1961 war es Chruschtschow, der in Moskau versammelten internationalen Genossen bei einer Rede Maßnahmen gegen den personalen Abfluss verkündete, bei der auch Ulbricht anwesend war. Ein entsprechender Aktenfund ist seit 2009 publik. Am 27.08.1961 soll Chruschtschow bei einem Besuch in Berlin den Mauerbau diktiert haben. Ulbricht, von dem unbedingte Loyalität und Disziplin erwartet wurde, hätte Chruschtschow schwerlich widersprechen können, schon gar nicht vor versammelter Mannschaft. Spätestens nach dem Quasi-Putsch Chruschtschows, der seinen Rivalen Berija erschießen ließ, hing die Macht des in der DDR angezählten Ulbricht von Chruschtschows Protektion ab. Was passiert wäre, hätte sich Ulbricht verweigert, probierte er Jahre später aus – und wurde von Mokaus neuem Mann Honecker ersetzt.
Die DDR war in militärischer Hinsicht bis zur Ära Gorbatschow nie ein souveräner Staat gewesen, dem man die Entscheidung zum Mauerbau überlassen hätte. Sowohl im Osten, als auch im Westen Deutschlands hatten die Supermächte intern klar gestellt, wer Koch und wer Kellner war. Galt etwa die „Kanzlerakte“ jahrzehntelang als Verschwörungstheorie, die vor allem von Neonazis gepflegt wurde, so lüftete Egon Bahr 2009 das vormalige Staatsgeheimnis, dass für die westlichen Siegermächte das Grundgesetz keine durchgehende Geltung entfaltete.
Während heute am Tag der Deutschen Einheit wieder Politiker um die Verdammnis der Mauer wetteifern und brav in jedem Beitrag das zweifelhafte Ulbricht-Zitat nachbeten, sind Zweifel angebracht, ob die Mentalität heutiger Volksvertreter tatsächlich eine andere ist: Vor nicht allzu langer Zeit hatte die Regierungsmehrheit mit Billigung aller im Bundestag vertretenen Parteien (mit Ausnahme der FDP und Linkspartei) das Internetsperrgesetz beschlossen. Eine staatliche Sperre aus Beton und digitale Sperren an Landesgrenzen sind zwar nicht das gleiche, aber doch prinzipiell etwas sehr ähnliches.