Das Bundesverfassungsgericht hat am 04.02.2010 ein wichtige Entscheidung zur Beurteilung mehrdeutiger Äußerungen (BVerfG, 1 BvR 369/04 vom 4.2.2010) verkündet, in der es um ausländerfeindliche Pöbelei dreier Deutschtümler ging, die in drei Instanzen als Volksverhetzung beurteilt wurde.
Das Gericht hat die Verurteilung aufgehoben und zurück ans Eingangsgericht verwiesen. In der Begründung heißt es unter anderem:
Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Meinungsäußerungen ist zum einen, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Die Deutung des objektiven Sinngehalts einer Meinungsäußerung ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums zu ermitteln (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; 114, 339 <348>). Hierbei dürfen die Gerichte der Meinungsäußerung keine Bedeutung beilegen, die sie objektiv nicht hat, und im Fall der Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben.
Zwar lag dem Fall eine strafrechtliche Beurteilung zugrunde und die Beschwerdeführer sind alles andere als sympathisch. Doch wenn das Bundesverfassungsgericht von der „Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Meinungsäußerungen“ spricht, dann stellt sich die überfällige Frage, ob damit die Hamburger Bräuche der „Stolpe-Rechtsprechung“ zu vereinbaren sind.
Bei zivilrechtlichen Unterlassungsbegehren wird einer mehrdeutigen Äußerung seit „Stolpe“ grundsätzlich die Interpretation zugrundegelegt, die das Persönlichkeitsrecht eines Klägers (theoretisch) verletzt, selbst wenn sie definitiv nicht gemeint war.
Das Bundesverfassungsgericht sagt aber im Bezug auf die Abwägung der Menschwenwürde (Art.1 GG) zur Meinungsfreihet (Art. 5 GG) noch etwas anders Hochinteressantes:
Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>; 107, 275 <284>). Die Gerichte haben diesen die Belange der Meinungsfreiheit verdrängenden Effekt bei der Normauslegung insbesondere von Straftatbeständen zu beachten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2008 – 1 BvR 1753/03 -, NJW 2008, S. 2907 <2909>).
Kern der aktuellen Entscheidung ist allerdings, dass das Gericht in der von den Fachgerichten geleisteten Auslegung der Äußerungen noch keinen Nachweis sieht, dass eine Verletzung der Menschenwürde vorliege:
Ausgehend von dem Erfordernis einer besonders sorgfältigen Prüfung für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung darf aus der Pauschalität einer verbalen Attacke nicht ohne weiteres auf ein Verächtlichmachen geschlossen werden, das den Betreffenden ihre Anerkennung als Person abspricht.
Sowie:
Die Strafgerichte müssen jedoch im Interesse des materiellen Grundrechtsschutzes durch Offenlegung der für den Ausgang der Abwägung maßgebenden Gründe in einer der verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglichen Weise erkennen lassen, dass in die Abwägung die dafür erheblichen Umstände eingestellt worden sind oder warum hierfür im Einzelfall etwa wegen einer Antastung der Menschenwürde kein Raum mehr war (vgl. zuletzt: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2008 – 1 BvR 1753/03 -, NJW 2008, S. 2907 <2909>; vgl. auch die einschlägige fachgerichtliche Rechtsprechung zur Subsumtion der Parole „Ausländer raus“ unter § 130 StGB – Nachweise oben III 3 a bb a.E.). Den Anforderungen an eine besonders sorgfältige Prüfung der Menschenwürdeverletzung, wie sie verfassungsrechtlich geboten ist, genügt dies nicht.
Summ summarum: Die fragliche Pöbelei KANN menschenrechtsfeindlich interpretiert werden, sie MUSS es aber NICHT.