Aufgrund des parteiinternen Streits mit problematischen Piraten und der durchsichtigen Instrumentalisierung durch politische Mitbewerber habe ich in den letzten Tagen viel nachgedacht. Dabei ist mir eine bizarre Episode aus meiner Schulzeit in Erinnerung gekommen, die ich kurz schildern möchte.
Ende der 80er Jahre glühte mein Herz für unsere Schülerzeitung am Albert-Schweitzer-Gymnasium in Kaiserslautern. (Ein Redaktionskollege war damals übrigens der spätere Journalist Arno Frank.) In diese Zeit fiel eine Affäre, die auf das Klima unseres Gymnasiums eine nachhaltige Auswirkung haben sollte. Damals wirkte dort ein sehr ambitionierter Deutsch- und Religionslehrer, den ich im katholischen Religionsunterricht hatte. Der Pädagoge war sehr bemüht, uns auch die anderen Weltreligionen zu vermitteln. Noch heute denke ich gerne an das mir zugefallene Referat über Gandhi zurück, meine erste Recherche überhaupt. Doch das mit dem Ahimsa oder dem Hinhalten der anderen Wange blieb auch bei diesem Lehrer letztlich Theorie, wie wir bald erfahren sollten.
Das große Thema des Religionslehrers war das Judentum, das ihn auf vielerlei Weise faszinierte. Sein Einsatz für die Aussöhnung sowie seine private Forschung wurde von vielen hoch respektiert, auch wenn der Mann selber manchmal einen eher weltfremden Eindruck machte und uns Schülern dadurch natürlich Angriffsflächen bot. Selbst aus dem Lehrerkollegium hörte man Stimmen, dass es der Lehrer mit seinem Enthusiasmus für das Judentum ein bisschen übertrieb und das Interesse seiner Schüler auf die Dauer strapazierte.
In einer fatalen Religionsstunde erklärte er den historischen Ursprung der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Hetzparole „Judensau“. Einige Tage später fand man auf einen Tisch geschmiert den Namen des Lehrers, gefolgt von den Worten „du Judensau“. Diese Schmähung traf den Lehrer tief – sehr tief. Sein Umgang mit dieser Provokation entwickelte eine Eigendynamik. In einer – wenn man so will – „Rasterfahndung“ wurden die Schüler eingegrenzt, die in der fraglichen Zeit an dem Tisch Platz genommen hatten und Verhöre durchgeführt. Besonders rigoros tat sich der Vizedirektor hervor, der bei der Befragung sogar „Stasi-Methoden“ angewandt haben soll wie etwa die Behauptung, man wisse schon alles durch Zeugen, man wolle es nur noch mal von ihm hören. Der schließlich ermittelte Täter erwies sich als Schüler mit Migrationshintergrund, der um seine Versetzung gefürchtet hatte. In einem Moment von Frust und Langeweile hatte er etwas Saudummes auf den Tisch gekritzelt, wie es nun einmal etliche Pennäler – leider – tun. Er selbst machte eher einen politisch desinteressierten Eindruck, der Religionslehrer war ihm mit seinem Thema schlichtweg auf die Nerven gegangen und er wollte nur den Lehrer persönlich treffen.
Der Schüler wurde aus dem Unterricht entfernt und musste auch langfristig die Schule verlassen. Der Fall belastete das Klima an der Schule nachhaltig. Darüber, ob das Ausmaß der Fahndungsaktion und die Strafe für den Schüler in einem Verhältnis zum Anlass standen, kann man geteilter Meinung sein. Die Aktion gab jedoch über die Mentalität unserer Lehrer Aufschluss, die sich zu Polizisten aufspielten und offensichtlich bereit zur Anwendung unappetitlicher Methoden waren. Definitiv hatte sich der Lehrer mit der Eskalation der Ereignisse keinen Gefallen getan. Zum Ritual beim Religionsunterricht gehörte es etwa seither, scheinheilig zu fragen, wo denn der fragliche Schüler sei.
Natürlich diskutierten wir den Fall auch in der Redaktion unserer Schülerzeitung. Zu der Hysterie schrieb auch ein Mitschüler, der die Beteiligten gut kannte und wusste, dass der betreffende Schüler apolitisch war. Der Artikel trug natürlich kaum zur Entspannung der Situation bei, vielmehr kam es später zu einem Streit zwischen dem rebellischen Autor, der den Lehrer schließlich in anderer Sache einer Unterstellung zieh und rhetorisch fragte, ob man den Lehrer „Lügner“ nennen dürfe, was den wiederum zur Weißglut brachte. (Ähnlich erging es mir gestern auf Twitter mit Volker Beck, der mich der Lüge zieh …)
Die Atmosphäre war vergiftet und blieb es. Dies hatte man geschafft, obwohl weder tatsächliche Juden oder Nazis beteiligt waren. Nicht einmal Provokateure wie Broder & Co. waren nötig gewesen, um die Akademiker aufzustacheln, zudem ging es ja nicht um originären Antisemitismus, vielmehr hatte der Schüler spöttisch einen Unterrichtsinhalt aufgegriffen. Alles in allem hatte der Umgang der Betroffenen mit dem Problem für wirklich alle Beteiligten (und sogar Nichtbeteiligten) den Ärger maximiert, das pädagogische Ziel jedoch vermutlich nicht erreicht. Respekt und Liebe hatte er sich durch die repressive Aktion nicht erworben. Augenmaß wäre vermutlich die bessere Lektion gewesen.
Ich zog es im Folgejahr vor, vom Religionsunterricht zum Fach Ethik zu wechseln – das allerdings ebenfalls der betreffende Lehrer unterrichtete. In der mündlichen Abi-Prüfung trafen wir nochmals aufeinander. Mein Thema war Sokrates, jener ungeliebte Kritiker, dem man den Schierlingsbecher reichte.
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[…] Eine verstörende Jugenderinnerung Der Schüler wurde aus dem Unterricht entfernt und musste auch langfristig die Schule verlassen. Der Fall belastete das Klima an der Schule nachhaltig. Darüber, ob das Ausmaß der Fahndungsaktion und die Strafe für den Schüler in einem Verhältnis zum Anlass standen, kann man geteilter Meinung sein. Die Aktion gab jedoch über die Mentalität unserer Lehrer Aufschluss, die sich zu Polizisten aufspielten und offensichtlich bereit zur Anwendung unappetitlicher Methoden waren. […]
#1 Pingback vom 24. April 2012 um 00:50